Mitarbeiterführung/Autismus

Autismus im Job Interview mit einem Betroffenen

Autismus ist eine Form der Neurodivergenz. Fünfzehn bis zwanzig Prozent der Bevölkerung sind betroffen. Neben der Hypersensibilität ist Autismus eine davon. Je nach Ausprägung gelten Betroffene als "Sonderling", oft glauben Kollegen oder Führungskräfte, dass sie es mit einer "schwierigen Persönlichkeit" zu tun haben. Weit gefehlt: In einem Interview mit einem Autisten durfte ich Interessantes lernen und wir haben uns zur Veröffentlichung entschlossen. 12 Fragen und Antworten, die relevant sind und uns als Mensch, auch in der Funktion als Führungskraft im Umgang mit neurodivergenten Persönlichkeiten weiterbringen.

Florian Malicke ist Autist. Lange ohne "Diagnose" und ohne Wissen für sich selbst, für Mitmenschen und Chefs. Heute weiß er um die Herausforderungen, die Menschen in seinem Umfeld und Führungskräfte mit Betroffenen haben. Häufig jodoch ohne Wissen und ohne Konzept im Umgang mit dieser Art der Neurodivergenz. Per Zufall haben wir uns kennengelernt und er war bereit, Antworten auf Fragen zu geben. Um Menschen mit Transparenz zu helfen, haben wir uns zur Veröffentlichung entschlossen. Hier die Details des Interviews mit Florian Malicke ("FM") und Alexander Bollmann ("AB").

Alexander Bollmann: Florian, danke zunächst für deinen Mut, offen mit mir zum Thema Autismus zu sprechen und deine Bereitschaft, auch auf naive Fragen, die uns alle betreffen, einzugehen!

Erkennen der Zeichen: Florian Malickes Weg zur Diagnose

Frage AB: Florian, wann und woran hast Du gemerkt, dass Du Autist bist, und wie lange hat es gedauert, bis Dir diese Besonderheit klar war?

  • Antwort FM: Ich gehöre zu der Gruppe der Spätdiagnostizierten und bekam meine Diagnose mit 46. Den Verdacht, dass ich Autist bin, hatte ich ungefähr 5 Jahre zuvor, während einer depressiven Episode. Allerdings hatte ich mein Leben lang das Gefühl, dass ich nicht „reinpasse“. Als Kleinkind bekam ich Panikattacken, hatte immer Schwierigkeiten, Freundschaften aufzubauen oder zu halten und während meines Studiums entwickelte ich eine Depression und Angststörung.

Autismus in der Wahrnehmung Anderer

Frage AB: Und woran haben es „die Anderen“ gemerkt, oder hätten es erkennen können?

  • Antwort FM: Gar nicht. Man sagt nicht ohne Grund, dass Autismus oft unsichtbar sei. Es wurde bemerkt, dass ich manchmal „komisch“ wirkte. Ich war Einzelgänger, lieber daheim und interessierte mich für das YPS-Heft, den Weltraum oder die Geschichte der Popmusik. Meine Eltern hatten große Schwierigkeiten mit meiner Erziehung, in den 70ern war die Aufklärung über pädagogische Konzepte nicht unbedingt weit fortgeschritten. Das, was man heute Overload oder Meltdown (Reizüberlastungen bis hin zum Zusammenbruch) nennt, konnten meine Eltern nicht nachvollziehen und waren vollkommen überfordert. Das ging so weit, dass meine Mutter mit mir zum Kinderarzt ging und er mir sagte, dass ich nicht so aggressiv gegenüber meiner Mutter sein solle, damit wir uns besser verstehen. Das war sehr demütigend für mich. Heute haben meine Mutter und ich ein großartiges Verhältnis, wir beide können die Vergangenheit neu einordnen und ich habe ihren vollen Support.

Rechtliche Konsequenz und Bedeutung

Frage AB: Ist Autismus eigentliche eine Krankheit im arbeits- und gesundheitsrechtlichen Sinn?

  • Antwort FM: Autismus ist weder im arbeits- noch im gesundheitlichen Sinn eine Krankheit, sondern laut der WHO eine neurologische Entwicklungsstörung. Seitdem der ICD-11 2022 in Kraft getreten ist, das Klassifizierungsbuch der WHO, wird nicht mehr von frühkindlichem Autismus oder Asperger-Syndrom gesprochen. Die große Bandbreite wird als Autismus-Spektrum-Störung zusammengefasst. Laut SGB (Sozialgesetzbuch) ist Autismus als eine Behinderung einzustufen. Wichtig ist mir noch, dass man Autismus nicht „wegmachen“ kann. Man wird damit geboren und ist es ein Leben lang, ähnlich, wie bei anderen Neurodivergenzen.

Frage AB: Wann und wie entstand bei Dir die fundierte Diagnose?

  • Antwort FM: Das diagnostische Verfahren führte eine Psychologin mit viel Erfahrung auf dem Gebiet der Neurodivergenz aus. In der Regel gibt es mehrere Termine. Vorab erhielt ich Fragebögen zu Einschätzungen, wie ich mich in bestimmten Situationen verhalte oder als Kind verhalten habe, die von mir und Familienangehörigen ausgefüllt wurden. Die Testung selbst läuft nach den ADOS-Richtlinien, dem derzeitigen Goldstandart der Autismus-Diagnostik. Bei Kindern beinhaltet es kontrollierte Spielszenarien und das Lösen von Aufgaben, bei Erwachsenen kann der Schwerpunkt der Diagnostik auf Gesprächen liegen.

Frage AB: Du sprichst auch von Neurodivergenz: Was bedeutet das?

  • Antwort FM: Wenn die kognitiven Gehirnfunktionen eines Menschen von denen abweichen, welche die Gesellschaft als innerhalb der Norm liegend, also als „normal“ oder „neurotypisch“ definiert, dann wird dieser Mensch als neurodivergent bezeichnet. Dazu gehören z.B. Autismus, ADHS, Legasthenie, Dyskalkulie oder Synästhesie. Zusammengefasst mit sogenannten neurotypischen Menschen spricht man von Neurodiversität (ND). Dieses Konzept setzt sich in den einschlägigen Communities immer weiter durch, wendet sich gegen eine pathologische Betrachtung von Neuro-Minderheiten und sieht ND als natürliche Formen der menschlichen Diversität an.

Irrgarten der Klischees – Autisten im sozialen Gefüge

Frage AB: Bist Du als Autist immer introvertiert, als Einzelgänger oder als jemand erkennbar, der sich vom Team, der Gemeinschaft absondert?

  • Antwort FM: Dass man als Autist nur in seiner Welt lebt und keine Sozialkontakte haben will oder kann, ist eines von vielen Klischees. Auch Autisten wünschen sich Freundschaften und Beziehungen. Es fällt uns oft nur unglaublich schwer und selbst wenn wir Freunde haben, können wir schnell von der gemeinsamen Zeit überfordert sein. Das ist bei jeder und jedem individuell ausgeprägt. Hier greift wieder mal der Begriff vom Spektrum, innerhalb dessen es alles gibt, von Introvertierten bis hin zu Hypersozialen. Ich kann gut in Teams zusammenarbeiten, wenn es zielgerichtet läuft. Sobald ich im Arbeits- oder im privaten Kontext, z.B. auf Partys (ja, ich mag Partys, wenn dort gute Musik läuft), in Grüppchen stehe, die sich dem Smalltalk widmen, wird es für mich schnell langweilig und ich weiß nichts dazu beizutragen. Ich lerne sehr gerne neue Menschen kennen, um interessante Gespräche zu führen, die mich weiterbringen.

Frage AB: Der offene Umgang mit der Diagnose ist sicher nicht leicht. Wie und wen aus Deinem Umfeld hast Du über die Diagnose informiert?

  • Antwort FM: 2020 habe ich meine Tochter, meine Familie und meine damalige Leitung informiert. Es war dann nochmal ein Schritt bis zum großen Outing. Das geschah in diesem Jahr. Autismus gehört zu meiner Identität, ich habe keinen Autismus, sondern ich bin Autist. Ich bin nicht stolz drauf, sondern ich nehme es einfach an und es ist vollkommen OK. Ich möchte andere Autisten ermutigen, nicht mehr unter den Umständen zu leiden. Ein Mensch leidet nicht an Autismus, er leidet an den Behinderungen durch seine Umwelt. Ich würde mir wünschen, diese Floskel nicht ständig in den Medien lesen zu müssen.

Neurodivergenz – Gesellschaftliche Bedeutung und Vielfalt im Denken

Frage AB: Ich habe gelernt, dass Autismus lediglich eine Form der Neurodivergenz ist und vermute, dass wesentlich mehr Menschen betroffen sind, als wir glauben. Wie hoch ist Deiner Meinung nach die Bedeutung in unserer Gesellschaft?

  • Antwort FM: Es gibt keine vwirklich erlässlichen Zahlen, aber Schätzungen gehen davon aus, dass ungefähr 15 - 20 Prozent der Bevölkerung neurodivergent sind. Da sind wir in schnell in Größenordnungen von 12.000.000 bis 16.000.000. Bei Autismus geht man von 1 Prozent aus, also ca. 830.000, wobei die Dunkelziffer vermutlich höher liegt. Und das nicht nur in Deutschland. Die Zahlen sind in allen Ländern der Erde, die sich mit dem Thema beschäftigen, ähnlich.

Autismus im Job - Führungsverantwortung und Umgang mit neurodivergent geprägten Kollegen: Wie können wir damit umgehen?

Frage AB: Aus Deinen Schilderungen wird klar, dass offensichtlich jeder von uns mit Menschen zu tun hat, die von Autismus, Hochsensibilität oder Neurodivergenz betroffen sind, bzw. sein könnten. Spätestens in der Mitarbeiterführung wird das relevant. Individuelle Persönlichkeitsmerkmale können auch sensibel sein, nicht jeder Betroffene geht offen um und erst recht nicht gerne. Sollte ich jemanden ansprechen, bei dem als FK die Vermutung habe, dass er betroffen ist?

  • Antwort FM: Ich kann dazu keine pauschale Antwort geben. Es kann für Betroffene, die nicht offen mit ihrem Autismus umgehen oder vielleicht keine Diagnose haben, sehr unangenehm sein, angesprochen zu werden. Autisten stehen nicht unbedingt gerne im Mittelpunkt. Vielmehr sollte ein Umdenken in der Unternehmenskultur stattfinden. Diversity ist nicht nur ein In-Label, dass gut im Marketing aussieht, sondern immer mehr Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer legen wirklich Wert darauf, auch auf der Arbeit mit ihrer Persönlichkeit geschätzt und wahrgenommen zu werden. Und so zu arbeiten, dass sie einen guten Job machen können. Das Gleiche gilt für die Kundschaft: Ihre Wahrnehmung ist feiner geworden in Bezug auf ethisches und nachhaltiges Handeln. Dazu braucht es einen Rahmen und der ist meines Erachtens bei Weitem noch nicht in den meisten Unternehmen angekommen bzw. erarbeitet worden. Die Investition wird sich mittelfristig auszahlen, und zwar für das gesamte Unternehmen. Wer das jetzt nicht versteht, wird abgehängt.

Frage AB: Wie sollte ich als Führungskraft oder Kollege reagieren, wenn mir ein MA von seiner Diagnose berichtet?

  • Antwort FM: Offen und mit Fragen, wie sich die Person den Umgang mit ihrem Autismus wünscht. Sollte sie Schwierigkeiten haben, Bedarf und Wünsche zu formulieren, ist es ratsam, sich zu diesem Thema Autismus-Experten zu holen. Im Übrigen kann ich empfehlen, für das Gespräch einen Termin mit einem genauen Zeitrahmen auszumachen und inhaltlich eine Vorschau zu geben. Am besten schriftlich, z.B. per E-Mail. So kann die betreffende Person sich innerlich darauf vorbereiten.

Frage AB: Es scheint, als würden betroffene Menschen eine stark ausgeprägte intensive innere Arbeit leisten. Im Umkehrschluss bedeutet es auch, dass ihr Innerstes besonders „trainiert“ sein müsste. Können wir daraus auch besondere Talente ableiten, welche können das sein?

  • Antwort FM: Das kann Vorteile bringen, einfach, weil Neurodivergente oft andere Denkansätze haben und Problemstellungen von anderen Seiten betrachten können. Insofern geht es hier nicht nur um den "good will" des Unternehmens, sondern um das Anzapfen wertvoller Ressourcen. Autistische Menschen sind z.B. oft sehr genau, viele verfügen über eine ausgezeichnete Erkennung von Mustern, haben in dem, was sie tun eine hohe Expertise, sie stellen Fragen, auf die man sonst vielleicht nicht kommen würde oder sie zeigen auf, dass es andere sinnvolle Wege geben kann, sich mit einem Thema zu beschäftigen. Und zu guter Letzt sind autistische Menschen sehr engagiert und loyal gegenüber einem Unternehmen, wenn sie dort akzeptiert sind.

Frage AB: Was sind die wesentlichsten Empfehlungen, die Du Menschen geben kannst, die Betroffene in ihrem Umfeld haben?

  • Antwort FM: Das lässt sich weit ausführen, aus meiner Warte und sicher vieler anderer wünsche ich mir Folgendes:
    • Habt Verständnis, auch wenn ihr den Autismus nicht sehen könnt oder euch manches Verhalten „schräg“ oder seltsam vorkommt.
    • Fragt vorher, ob eine betroffene Person eine Unterhaltung mit euch führen möchte.
    • Legt fehlenden Augenkontakt oder anderes Verhalten nicht als Desinteresse aus.
    • Akzeptiert es, wenn Betroffene Rückzug oder mehr Pausen benötigen.

Alexander Bollmann: Vielen Dank, Florian für Deine Offenheit, Deinen Mut darüber zu sprechen und für die hilfreichen Hinweise! Sicher wird das vielen Menschen helfen, offensiver mit dem Thema Autismus und Neurodivergenz umzugehen, es besser zu verstehen und als Führungskraft, sowie als Kollege angemessen mit Menschen mit besonderen Merkmalen umzugehen. Oder gar die „verborgenen Kompetenzen“ integrativ für Alle zu nutzen.

Anmerkung Alexander Bollmann zum Interview

Menschen sind nicht behindert, sie werden behindert! Neurodivergenz ist keine Behinderung; sie ist eine Besonderheit. Und auch wert, bemerkt zu werden. Eindeutig ist auch, dass es unterschiedliche Ausprägungen gibt; so wie jeder Mensch ein anderer ist als alle anderen.
Florian Malicke ist nicht nur durch seine eigene Vita betroffener Mensch und Experte in der Begleitung neurodivergenter Menschen, er ist auch eine sehr sympathische Persönlichkeit und ein toller Gesprächspartner.
Unser Gespräch war umfangreicher, als es das Interview hergeben kann, welches wir gerne in unseren Netzwerken teilen. Florian steht jedem Betroffenen und auch Führungskräften, sowie dem Personalmanagement zur Verfügung, um Profi im Umgang mit dieser Besonderheit werden zu können. Seine Kontaktdaten finden Sie auf seiner Website: https://www.autismus-coaching-rheinmain.de/.

Alexander Bollmann
Management- & Personalberater / Gesellschafter & Geschäftsführer

Dieser Blog-Beitrag wurde am 02. November 2023 veröffentlicht.